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Neue Studie verfolgt die „Pathologie-Uhr“ des Ablaufs der Alzheimer-Krankheit mit bisher unerreichter zellulärer Auflösung
Foto Henry Be,Unsplash
Bahnbrechende Studie enthüllt zelluläre Veränderungen bei Alzheimer
Eine umfassende neue Studie hat erstmals detailliert aufgezeigt, wie sich einzelne Zelltypen im Gehirn im Verlauf der Alzheimer-Krankheit verändern. Die Ergebnisse könnten den Weg für gezieltere Therapien ebnen.
Ein internationales Forscherteam unter Leitung des Allen Institute for Brain Science in Seattle hat einen „multimodalen Zellatlas“ der Alzheimer-Krankheit erstellt. Dafür untersuchten die Wissenschaftler Gehirngewebe von 84 Spendern mit unterschiedlich fortgeschrittener Alzheimer-Pathologie. Mittels modernster Einzelzell-Technologien analysierten sie über 3,4 Millionen Zellen und kartierten deren molekulare Veränderungen im Krankheitsverlauf.
„Diese Studie liefert uns einen beispiellosen Einblick in die zellulären Mechanismen der Alzheimer-Krankheit“, erklärt Studienleiter Ed Lein. „Wir können nun genau nachvollziehen, welche Zelltypen wann und wie von der Krankheit betroffen sind.“
Zwei Phasen der Krankheitsentwicklung
Die Forscher identifizierten zwei Hauptphasen der Alzheimer-Progression:
1. Eine frühe Phase mit langsam zunehmender Pathologie, gekennzeichnet durch:
– Aktivierung von Mikroglia und Astrozyten
– Verlust bestimmter hemmender Nervenzellen (Somatostatin-positive Interneurone)
– Remyelinisierungsreaktion durch Oligodendrozyten-Vorläuferzellen
2. Eine späte Phase mit exponentiell zunehmender Pathologie, charakterisiert durch:
– Verlust von erregenden Nervenzellen und weiteren Interneuron-Subtypen
– Fortschreitende Neuroinflammation
– Abnahme der Remyelinisierungsaktivität
Überraschende Erkenntnisse zu frühen Veränderungen
Besonders aufschlussreich waren die Einblicke in die frühe Krankheitsphase.
„Wir haben festgestellt, dass bestimmte Interneurone in den oberen Hirnrindenschichten schon sehr früh verloren gehen – noch bevor sich die typischen Alzheimer-Plaques in größerem Umfang bilden“, erläutert Erstautorin Rebecca Hodge.
Diese früh betroffenen Nervenzellen zeigten spezifische elektrophysiologische und molekulare Eigenschaften. So exprimierten sie verstärkt den HCN1-Ionenkanal, der mit neuronaler Erregbarkeit in Verbindung steht.
„Der selektive Verlust dieser Interneurone könnte zu einer Störung der Erregungs-Hemmungs-Balance im neuronalen Netzwerk führen“, vermutet Hodge. „Das könnte erklären, warum viele Alzheimer-Patienten ein erhöhtes Risiko für epileptische Anfälle haben.“
Neue Ansatzpunkte für Therapien
Die detaillierte Kartierung zellulärer Veränderungen eröffnet neue Möglichkeiten für gezieltere Therapieansätze. „Wir können nun viel präziser bestimmen, welche Zelltypen wann im Krankheitsverlauf betroffen sind“, betont Lein. „Das hilft uns, Interventionen zu entwickeln, die genau dort ansetzen, wo die Probleme beginnen.“
Vielversprechende Ansatzpunkte sehen die Forscher unter anderem in:
– Schutz der früh betroffenen Interneurone
– Modulation der Mikroglia-Aktivierung
– Förderung der Remyelinisierung durch Oligodendrozyten-Vorläuferzellen
– Erhalt der Funktion von Astrozyten
„Unsere Ergebnisse legen nahe, dass wir bei der Alzheimer-Behandlung viel früher ansetzen müssen, als bisher gedacht“, resümiert Lein. „Wenn wir die ersten zellulären Veränderungen aufhalten können, haben wir vielleicht die Chance, den Krankheitsverlauf entscheidend zu beeinflussen.“
Nächste Schritte
Als nächstes wollen die Forscher untersuchen, ob sich die im mittleren Temporallappen beobachteten Veränderungen auch in anderen Hirnregionen finden. Zudem planen sie, die Erkenntnisse in Zellkultur- und Tiermodellen zu überprüfen, um mögliche therapeutische Ansätze zu testen.
Die Studie wurde im Rahmen der BRAIN Initiative des US-Gesundheitsministeriums durchgeführt. Sie ist Teil eines größeren Projekts zur Erstellung eines umfassenden Zellatlas des menschlichen Gehirns. Die Daten sind für Forscher weltweit frei zugänglich und sollen als Grundlage für weitere Studien dienen.
„Diese Arbeit ist ein Meilenstein in der Alzheimer-Forschung“, urteilt Alzheimer-Experte Bart De Strooper, der nicht an der Studie beteiligt war. „Sie liefert uns eine Schatzkarte der zellulären Veränderungen bei Alzheimer. Jetzt liegt es an uns, diese Erkenntnisse in neue Therapien zu übersetzen.“
Quelle
Nature Neuroscience
https://doi.org/10.1038/s41593-024-01774-5